Friday, December 22, 2006

Der materialistische Wähler

Nachdem ich das letzte Mal die Kennzahl „Erwartungserfüllung“ eingeführt habe, frage ich mich nun, ob es eine Möglichkeit gibt, die Entwicklung der Erwartungserfüllung vorauszusagen.

Die Erwartungserfüllung ist definiert als die Änderung des Wahlergebnisses der Regierungsparteien vom Anfang ihrer Wahlperiode zum Ende dieses Zeitraumes. Oder formelhaft: Erwartungserfüllung ist die Summe der Wahlergebnisse der bisherigen Regierungsparteien in den Wahlen zur folgenden Wahlperiode abzüglich der summierten Ergebnisse der Regierungsparteien zu Beginn ihrer (also der jetzt abgelaufenen) Wahlperiode.

Die Vermutung ist, dass der Wähler in seiner Einschätzung der Regierungsarbeit materialistisch vorgeht. Der Wähler wählt eine Regierung wieder, wenn sein materieller Wohlstand angemessen wächst, er wählt die Opposition oder gar nicht, wenn sein materieller Wohlstand nicht zu seiner Zufriedenheit steigt oder sogar sinkt.

Um diese Hypothese zu testen brauchen wir eine Kennzahl für den materiellen Wohlstand. Die einfachste Maßzahl wäre die Wertschöpfung in der Form des BIP. Um die Wahlbevölkerung besser abzubilden wäre das BNE (Bruttonationaleinkommen) etwas geeigneter, da im Inland lebende Ausländer hierbei nicht, dafür jedoch im Ausland lebende deutsche Staatsbürger (=Wähler) erfasst werden.

Möglich wäre es noch – um noch mehr auf die konkrete Einkommenssituation abzustellen – das Volkseinkommen zu betrachten. Das Volkseinkommen ist das um Abschreibungen und diverse Staatseingriffe (z.B. Zölle, Subventionen) bereinigte BNE und stellt die Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit, unternehmerischem Handeln und Vermögen dar.

Nun stellt sich noch die Frage, für welchen Zeitraum die Änderung des materiellen Wohlstands betrachtet werden soll. Der Mittelwert der Wahlperiode setzt eine langfristige Orientierung der Wähler voraus. Die Wirtschaftspsychologie zeigt aber, dass in Bezug auf Nutzen eine eher kurzfristige Sicht- und Handlungsweise überwiegt.

Die Wachstumsrate des Wahljahres selbst ist zum Zeitpunkt der Wahl noch nicht abzusehen und auch noch nicht festgelegt. Handlungen der neuen Regierung können die wirtschaftliche Entwicklung noch beeinflussen. Modellrechnungen zeigen einen deutlich geringeren Zusammenhang von Wahljahreswachstumsraten aller drei Indikatoren im Vergleich zu denen des Vorjahres.

Zu den Indikatoren muss noch gesagt werden, dass alle Datenreihen von destatis (BIP) oder mir (BNE, Volkseinkommen) preisbereinigt wurden, da die wirtschaftswissenschaftliche Forschung davon ausgeht, dass die Wirtschaftssubjekte nicht der Geldillusion unterliegen, also die Inflationsrate in ihre Handlungen miteinbeziehen.

Butter bei die Fische: Der Korrelationskoeffizient von Erwartungserfüllung und Indikator liegt immerhin bei allen Betrachtungen über 0,5:
BIP: 0,63 (mit Wert des Wahljahres 0,61),
BNE: 0,70 (0,55),
VE: 0,67 (0,57).

Zu meiner Überraschung verbessert sich der Korrelationskoeffizient aber noch, wenn man weitere Jahre der Wahlperiode hinzunimmt. Das erste Jahr hat zwar kaum einen Einfluss, da es im Ergebnis aber keinen Unterschied macht, rechnen wir mit dem Mittelwert der Wachstumsraten unserer Indikatoren der Wahlperiode:
BIP: 0,73
BNE: 0,80
VE: 0,77

Im Ergebnis kann man sagen, dass der Wähler seine Wahlentscheidung zu einem nicht geringen Teil davon abhängig macht, inwieweit ihm die letzte Regierung materiell genutzt hat.

Falls jemand einen guten Indikator für Ideologie kennt, wäre ich ihm sehr verbunden.

Wednesday, December 20, 2006

Wahlen als Abrechnung mit der Regierung

Ich habe mich schon länger gefragt, warum Wahlergebnisse immer als Bestätigung des Wahlprogramms gesehen werden. Nach meiner Einschätzung fragen sich die Leute eher, ob sie mit der Regierung zufrieden waren, nicht, ob Konzept A besser als Konzept B ist.

Gehen wir also mal davon aus, dass Wahlergebnisse die Regierung der abgelaufenen Wahlperiode bewerten.

Um das zu operationalisieren schaffen wir uns eine Kennzahl „Erwartungserfüllung“, die der Veränderung des Wahlergebnisses der Regierungsparteien der letzten zu dieser Wahlperiode entspricht.


Wahlperi.| Reg. Opp. Zus. Regier.| Erwartungs-
---------+ ---- ---- ---- -------+ erfüllung
1949-1953| 42,9 29,2 54,7 CDU/FDP| 11,8
1953-1957| 54,7 28,8 57,9 CDU/FDP| +3,2
1957-1961| 50,2 39,5 45,3 CDU/---| -4,9
1961-1965| 58,1 36,2 57,1 CDU/FDP| -1,0
1965-1969| 86,9 09,5 88,8 CDU/SPD| +1,9
1969-1972| 48,5 46,1 54,2 SPD/FDP| +5,7
1972-1976| 54,2 44,9 50,5 SPD/FDP| -3,7
1976-1980| 50,5 48,6 53,5 SPD/FDP| +3,0
1980-1983| 53,5 46,0 45,2 SPD/FDP| -8,3
1983-1987| 55,8 43,8 53,4 CDU/FDP| -2,4
1987-1990| 53,4 45,3 54,8 CDU/FDP| +1,4
1990-1994| 54,8 41,0 48,3 CDU/FDP| -6,5
1994-1998| 48,3 48,1 41,3 CDU/FDP| -7,0
1998-2002| 47,6 46,4 47,1 SPD/Grü| -0,5
2002-2005| 47,1 49,9 42,3 SPD/Grü| -4,8
2005-2009| 69,4 26,6 --,- CDU/SPD|

(Wahlperi.=Wahlperiode; Reg.=Ergbenis der Regierung; Opp.=Ergbenis der Opposition; Zus.=Ergebnis der Regierung bei Folgewahlen; Regier.=Regierungsparteien)

Was sehen wir: Seit 1990 haben wir keine Regierung mehr, die „gut“ – im Sinne von: Im Interesse der Wähler – regiert. Nun ist eine sinkende Erwartungserfüllung nicht gleichzusetzen mit einem Abtritt der Regierung. Wenn eine Partei bzw. Koalition nur weiterhin über genügend Zustimmung verfügt, dann regiert sie trotzdem weiter (1972-76, 83-87, 90-94, 98-2002). Selbst mit weniger Prozenten als die Opposition kann man regieren (2002-05), da die 5%-Klausel und Überhangmandate trotzdem zu genügend Stimmen für die Kanzlerwahl führen können.

Leider korreliert die Erwartungserfüllung also nicht mit einem Regierungswechsel. Die Ergebnisse einzelner Parteien lassen sich auch nicht voraussagen, insbesondere da Zweitstimmenkampagnen und taktisches Abstimmen die Verteilung auf potentielle Koalitionspartner nicht so einfach zulassen.

Erschwerend kommt noch hinzu, dass nach einer großen Koalition die Chancen gut stehen, dass die Erwartungserfüllung positiv ist, selbst wenn ein Regierungswechsel stattfindet. Um eine Regierung zu bilden, muss zumindest SPD oder CDU Stimmen gewinnen damit die Koalitionsbildung ohne den bisherigen Partner funktioniert.

Auffällig ist indes der Beginn der anhaltenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierung und dem Beitritt der DDR zur BRD. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung bis 1987 liegt bei 87%, seit 1990 liegt sie bei 79,2%. Das ist allerdings kein Trend, sondern ein neues Niveau, dass bislang recht stabil ist (man könnte also vermuten, dass durch den Beitritt anteilig mehr Nichtwähler in der BRD wohnen; Proxy:1,0985.

Sowohl das alte Wahlbeteiligungsniveau, wie auch das Neue schwanken wenig und laufen ziemlich parallel zur Nulllinie. Wir haben also nicht nur eine Unzufriedenheit mit der Regierung, sondern zugleich eine gesteigerte Unlust zur Wahl zu gehen.

Nun kann der Entschluss, nicht zu wählen, viele Ursachen haben. Gerade von einer Ablehnung der Demokratie kann man ohne weiteres nicht ausgehen. Im Zusammenhang mit der Kennzahl „Erwartungserfüllung“ kann allerdings davon gesprochen werden, dass die Wahlberechtigtengrundsätzlich mit der Regierung und der Opposition unzufrieden sind.