Friday, September 23, 2005

was ist eine volkspartei ohne volk?

die volksparteien schrumpfen, weil ihre basis bröckelt. deutschland wird internationaler, technologisierter und offener für die welt. was denkt ihr denn, wie sich die parteien zu modernisieren versuchen?

[SPON] Franz Walter - Volksparteien: Christlich Demokratische Erosion:
Die Sozialdemokraten begannen zu schrumpfen, als ihre industriellen Hochburgen zerfielen, als die Welt der Zechen, Werften und Hochöfen unterging. Doch auch die Welt der Christdemokraten wird nunmehr schmaler und schmaler, da immer weniger Menschen im modernen Deutschland noch treue Kirchgänger, lebenslange Heimatverbundene, dogmatische Nationalpatrioten und wütende Bekämpfer jedweder Emanzipation sind. Diesen Typus findet man noch hier und da in der Provinz, aber er wird minoritar und er befindet sich in einem kulturell tiefgreifenden Gegensatz zu anderen, neuen, jüngeren Schichten im Bürgertum.
[...]
Die großen Wahltriumphe von Wulff, Stoiber, Rüttgers, Müller, Beust und Koch gingen auf einen ganz ungewöhnlichen Stimmenzuwachs aus der Arbeiterschaft zurück. Dies kam einer Revolution in der Wahlgeschichte gleich. Die CDU wurde für zwei Jahre die Mehrheitspartei der Arbeiterklasse zwischen München und Kiel. Doch wusste die CDU in keiner Sekunde etwas mit diesem auch für sie überraschenden Zulauf anzufangen.
Vor allen die vielen jungen unqualifizierten männlichen "Frustarbeiter", die sich ein Mehr an Cash von Merkel und - damals - Merz versprachen, waren den Christdemokraten fremd, wahrscheinlich sogar unheimlich.
[...]
Und so hat die Union an beiden Seiten verloren, im Frustproletariat und bei der betriebsamen Bourgeoisie. Historisch hat die CDU stets durch ihre erstaunliche Integrationskraft imponiert, durch ihre bemerkenswerte Fähigkeit, disparate Lebenswelten zu verklammern: Katholiken und Protestanten, Bergarbeiter, Bauern und Bonzen, Deutschnationale und Liberale. Adenauer war ein Virtuose der Bündelung, Kohl ebenfalls. Frau Merkel ist es überhaupt nicht. Die große konservativ-katholisch-liberale Volkspartei bröckelt und bröselt an etlichen Stellen. Einst waren Frauen eine stabile und verlässliche Ressource dieser Partei. Nun kommt die Union bei den Wählerinnen zwischen 18 und 34 Jahren nicht einmal mehr auf 30 Prozent. Über Jahrzehnte erreichten CDU/CSU bei den über 60-Jährigen konstant weit über fünfzig Prozent.
Jetzt, da die Älteren in der ergrauenden deutschen Gesellschaft schon anteilsmäßig in der Wählerschaft immer wichtiger werden, schafft sie in dieser Kohorte lediglich 43 Prozent. Ihre Rentnerressource versiegt seit 1998 systematisch. Ihre Proportionen in der Wählerschaft sind unausgeglichen, zwischen West und Ost, zwischen Alt und Jung, da die Union im Osten nur auf 25,3 Prozent kommt, bei den 18 bis 34-Jährigen auf 26 Prozent.
Die Union mag im Jahr 2005 mit einer denkbar unglücklich agierenden Kanzlerkandidatin ins Rennen gegangen sein. Aber die Problematik der christdemokratischen Erosion liegt tiefer. Die CDU/CSU verfügt nicht mehr über den normativen, mentalen, organisatorischen und strategischen Integrationsstoff, um die heterogenen Sozialgruppen der gesellschaftlichen Mitte diesseits von Rot-Grün zu bündeln und beieinander zu halten. Ohne Zweifel: die Zukunft der Union als Volkspartei steht auf dem Spiel.

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